Spaziergang

»Veränderung wird von Menschen gestaltet«

Wie wirkt sich die Arbeitswelt 4.0 auf Mitarbeiter und ihre Gesundheit aus? Das untersucht die AOK Niedersachsen in dem Projekt „Gesundheit in der Arbeitswelt 4.0“, an dem das Fahrzeugwerk Bernard Krone als eines von 21 Projektunternehmen teilnimmt. Aloys Schnelte, geschäftsführender Direktor (rechts), traf sich mit Dr. Jürgen Peter, Vorstandsvorsitzender der AOK Niedersachsen, zu einem Spaziergang am Fagus-Werk im niedersächsischen Alfeld.

Aloys Schnelte: Wir haben bei Krone vor einigen Jahren einen gewissen Wandel in allem vollzogen, was die Unternehmenskultur, die Mitarbeiterführung und die Führungsstrukturen angeht. Das sind Anpassungen, die infolge des demografischen Wandels und der zunehmenden Automatisierung von Unternehmensprozessen notwendig werden. Und wir begleiten die Mitarbeiter natürlich auf diesem Weg und unterstützen sie auch darin, gesund, motiviert und leistungsfähig zu bleiben. Wie sehen Sie diese Entwicklungen vor Ihrem Hintergrund als Vorstandsvorsitzender einer Krankenkasse?

Jürgen Peter: Die Digitalisierung ist natürlich der Kerntreiber für die meisten Veränderungsprozesse, die wir derzeit erleben. Da digitale Veränderungen in der Regel strategie- und technikzentriert sind, wird der Mensch hierbei oftmals nicht richtig mitgenommen und beteiligt. Das birgt ein hohes Risiko, denn in der Regel sind es die Menschen, die dafür verantwortlich sind, Prozesse zu gestalten. Man riskiert also, dass Veränderungen scheitern, weil man die Akteure nicht richtig mitgenommen hat. Deren Rolle und ihre Aufgaben ändern sich – das ist völlig richtig: Nach wie vor bleibt der Mensch der entscheidende Erfolgsfaktor.

Aloys Schnelte: Das ist ganz sicher so! Die Veränderungsprozesse in unserem Unternehmen werden von unseren Führungskräften und Mitarbeitern initiiert, gestaltet und umgesetzt, das wird auch so bleiben. Daher wünschen wir uns natürlich auch, dass sie lange gesund und zufrieden bleiben.

Jürgen Peter: Und genau aus diesem Grund sollte das Thema Gesundheit weiter in den Vordergrund rücken. Bisher spricht man oft erst dann darüber, wenn es um die Folgen durch Belastungen geht, etwa steigende Arbeitsunfähigkeitszahlen. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass die Gestaltung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen von Anfang an mitgedacht wird. Dabei sollten sowohl Mitarbeiter als auch Führungskräfte eine aktive Rolle einnehmen. Wir als Gesundheitskasse unterstützen die Unternehmen, diesen Weg zu gehen, und beraten zur Implementierung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements. Dabei können wir auf über 20 Jahre Erfahrung bauen.
                               

ZUR PERSON

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Dr. Jürgen Peter führt seit März 2005 als Vorstand die AOK Niedersachsen. Er war zuvor als Geschäftsführer im Bereich Unternehmensentwicklung und als Leiter des Zentralcontrollings für die Reorganisation der AOK Niedersachsen und ihre Konsolidierung verantwortlich. Dr. Peter studierte Betriebswirtschaftslehre und promovierte über die Einführung von Lean Management und Gruppenarbeit in Industriebetrieben.
             

Aloys Schnelte: Wenn man es rational betrachtet, gibt es drei Produktionsfaktoren: Arbeit, Boden und Kapital. Arbeit – das sind immer die Menschen. Wenn wir nicht sicherstellen, dass die Menschen ihre volle Leistung erbringen können, wird man auch kein gutes Ergebnis erwirtschaften.

Jürgen Peter: Es ist also eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

Aloys Schnelte: Ja, und nicht nur deshalb sollte das Thema Gesundheit einen festen Platz in der Unternehmens- und Führungskultur haben. Es ist ein individueller Prozess: Nicht jeder Mitarbeiter kann bei dem hohen Tempo mithalten – deshalb ist er aber kein schlechter Mitarbeiter. Die Herausforderung ist, für jeden einen auf seine Bedürfnisse zugeschnittenen Maßnahmenkatalog zu entwickeln beziehungsweise bereitzuhalten. Vor allem Führungskräfte sind gefordert, ihre Mitarbeiter zu unterstützen und ihnen zu zeigen, wie sie neuen Herausforderungen gerecht werden und ihnen ohne Angst begegnen. Gesundes Führen und Resilienz bilden einen wichtigen Baustein in unserem bereits etablierten Führungskräfteentwicklungsprogramm.

Jürgen Peter: Bei den Themen Führung und Selbstmanagement arbeiten wir in Niedersachsen daran, die Unternehmen mit zukunftsfähigen Konzepten zu begleiten. Angebote sind erfolgreicher, wenn sie Arbeit und Lernen kombinieren – nur dann ist der Transfer des Gelernten in den beruflichen Alltag sichergestellt. Egal, ob wir Beschäftigte für Stress- und Selbstmanagement sensibilisieren oder Führungskräfte zu den Kompetenzen des gesunden Führens schulen – wichtig ist, dass der Prozess langfristig angelegt ist und in den Unternehmens- und Berufskontext passt.
                 
Das Fagus-Werk wurde schon vor über 100 Jahren als Ort modernen Arbeitens konzipiert, an dem der Mensch im Mittelpunkt steht, und gehört seit 2011 zum Unesco-Weltkulturerbe.
Das Fagus-Werk wurde schon vor über 100 Jahren als Ort modernen Arbeitens konzipiert, an dem der Mensch im Mittelpunkt steht, und gehört seit 2011 zum Unesco-Weltkulturerbe.

Aloys Schnelte: Viele unserer Kunden sind kleinere mittelständische Betriebe: Was würden Sie denen bei dem Thema raten?

Jürgen Peter: In dem Innovationsprojekt „Gesundheit in der Arbeitswelt 4.0“, in das Sie als Fahrzeugwerk Krone ja auch involviert sind, schauen wir uns unter anderem an, vor welchen Herausforderungen Unternehmen im Zuge der Digitalisierung stehen und wie sie diesen begegnen können. In dem Projekt ist schnell deutlich geworden, dass sich die meisten Herausforderungen unabhängig von Unternehmensbranche und -größe wiederfinden. Wissenstransfer ist dabei ein wesentlicher Aspekt, den wir Unternehmen empfehlen. Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen können die Chance nutzen, voneinander zu lernen, indem sie ihre Erfahrungen zur Good und Bad Practice miteinander teilen. Den an unserem Projekt teilnehmenden Unternehmen bieten wir einen Erfahrungsaustausch an, der von Beginn an durch Offenheit und Impulsen geprägt ist.

Aloys Schnelte: Jeder Arbeitsplatz und jeder Prozess ist anders gesteuert. Ich muss auch an mir selbst arbeiten: Ich bin noch an recht starre Arbeitszeiten gewohnt – mir liegt das auch. Aber flexible Arbeitsmodelle wie Homeoffice, Arbeitszeitkonten oder dezentrale Arbeitsplätze sind sehr wichtig und tragen dazu bei, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern. Wir fragen unsere Mitarbeiter im Rahmen Ihres Projekts, welche Themen sie bewegen und wo wir sie unterstützen können. Alle können dabei offen ihre Wünsche, Erwartungen und auch Ängste benennen. Wir geben ihnen im Rahmen unseres Vorhabens „Progress 2020“ bei Krone zudem die Chance, neue strategische Themen in agilen Projektgruppen selbst zu bearbeiten und Vorschläge zu erarbeiten, wie wir uns verbessern können. Und wir bewegen uns innerhalb des Unternehmens weg von einer starren Organisationsform mit vielen Abteilungen und einer Linienverantwortung hin zu Netzwerken, agilen Gruppen und damit einer interdisziplinären Verantwortung. Agil bedeutet hier vor allem, dass die Mitarbeiter weniger Ziele vorgegeben bekommen, sondern sie sich selbst kurzfristig immer neue setzen. Zwar wird ein Gesamtziel benannt, aber der Weg dahin kann frei gestaltet werden. Unserer Erfahrung nach führt dies zu besseren und schnelleren Ergebnissen, aber auch zu einer hohen Eigenmotivation und Eigenverantwortung. Was weiß man denn aus wissenschaftlicher Sicht zu den Belastungen durch die Digitalisierung?
                           
»Nach wie vor bleibt der Mensch der entscheidende Erfolgsfaktor

 
Dr. Jürgen Peter

               

Jürgen Peter: Das ist noch nicht ausreichend untersucht, aber klar ist, dass die Digitalisierung sowohl Chancen als auch Risiken birgt. Das ist bei nahezu allen digitalen Neuerungen so. Beispielsweise kann die Flexibilität, die den Menschen immer stärker abverlangt wird, zu einer Überforderung führen. Entgrenzung ist hier ein wichtiges Stichwort: Wenn das Gefühl vorherrscht, immer erreichbar zu sein, müssen auf der einen Seite betriebliche Rahmenbedingungen und Erwartungshaltungen formuliert werden, auf der anderen Seite ist der Beschäftigte gefragt, sich selbst Grenzen zu ziehen. Gleichzeitig kann die zunehmende Flexibilität Vorteile mit sich bringen: Der Beschäftigte erhält mehr Freiraum für die Gestaltung seiner Arbeit und kann eigenverantwortlicher handeln. Vor diesem Hintergrund hat die Führungskraft eine Art Schlüsselfunktion. Sie muss auf die individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten eingehen und bei Bedarf unterstützen. Die Vorbildwirkung der Führungskraft ist dabei auch ein relevanter Punkt.

Aloys Schnelte: Was können Sie den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern raten, wie können diese mit den Herausforderungen umgehen?

Jürgen Peter: Das ist natürlich sehr individuell und von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz verschieden. Im Zuge der Digitalisierung von beispielsweise Büro- oder Produktionsarbeitsprozessen kann der Verantwortungsgrad der Beschäftigten sinken oder er kann sich erhöhen – je nachdem, ob die Aufgaben einfacher oder komplexer werden. Für einige ist die Möglichkeit, von überall arbeiten zu können, eine Belastung. Für andere schafft es Freiraum und Flexibilität. Vor Kurzem bin ich mit jemandem ins Gespräch gekommen, der bei Bedarf über sein Tablet gegensteuern kann, wenn es in der Produktion seines Arbeitgebers hakt. Das kann er dann auch an einem Samstagvormittag im Café am Marktplatz erledigen und muss nicht in die Firma fahren. Für die Beschäftigten ist relevant, sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen und zu reflektieren, was diese für sie bedeuten. Sind sie eine Belastung oder eine Ressource? Wichtig ist, darüber beispielsweise mit der Führungskraft zu sprechen und sich auch einzubringen. Denn nur so kann das Unternehmen die Veränderungen an die Bedarfe oder Bedürfnisse der Beschäftigten anpassen. Wie sieht denn für Sie die ideale Arbeitswelt 4.0 aus?
                            
Aloys Schnelte und Dr. Jürgen Peter (von links) besichtigten die Produktionshallen im Inneren des Unesco-Weltkulturerbes.
Aloys Schnelte und Dr. Jürgen Peter (von links) besichtigten die Produktionshallen im Inneren des Unesco-Weltkulturerbes.
Dort werden in Handarbeit Schuhleisten hergestellt, die für eine perfekte Passform sorgen sollen.
Dort werden in Handarbeit Schuhleisten hergestellt, die für eine perfekte Passform sorgen sollen.

Aloys Schnelte: Aus wirtschaftlicher Sicht ist für uns ein hoher Industrialisierungs- und Automationsgrad erstrebenswert, weil wir einfach nicht mehr ausreichend Fachkräfte finden. Wir brauchen vor allem Leute, die die Prozesse überwachen und begleiten, die also übergreifend denken können und auch komplexe Sachverhalte verstehen. Viele sehen Automation und Industrialisierung recht negativ. Wenn sich das ändern würde und sich beides mit einem Verständnis der Mitarbeiter verschmelzen würde, die sich in ihrer Umgebung wohlfühlen, gesund und motiviert sind, dann wäre das der Idealzustand.

Jürgen Peter: Volkswirtschaftlich würde ich auch sagen, dass eine höhere Produktivität ein gutes Ziel ist, denn damit werden Arbeitsplätze geschaffen und mehr Aufträge für die deutsche Industrie akquiriert. Eine Unternehmenskultur, in der die Mitarbeiter im Mittelpunkt stehen, kann hilfreich sein, um Beschäftigte an das eigene Unternehmen zu binden.

Aloys Schnelte: Produktivität und damit Wettbewerbsfähigkeit sind für uns unabdingbar. Doch die Menschen, die wir dafür als Mitarbeiter brauchen, müssen wir wahrscheinlich noch viel früher als bisher ansprechen. Die Ausbildungssysteme müssen darauf abgestimmt werden – es dauert seine Zeit, das in den Unternehmen umzusetzen. Gleichzeitig haben gerade junge Nachwuchskräfte andere Ansprüche an die Arbeit, etwa den Wunsch nach einer hohen Flexibilität. Krone in Werlte lebt nicht gerade am Mittelpunkt der Welt, und wir werden deshalb nicht alle Ingenieure zu uns bewegen können; da muss man sich Gedanken über andere Arbeitsformen in der Zusammenarbeit von Teams machen. Denn die Inhalte sind ja hoch spannend – man wird permanent herausgefordert und kann sich weiterentwickeln. Auch das ist für das persönliche Wohlbefinden wichtig und fördert damit wieder die Gesundheit.
            
Fotos: Michael Löwa

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