Dr. Frank Albers: Sie haben lange in der Formel 1 gearbeitet und sind dann zum Radsport gewechselt. Was hat Sie zu dieser Veränderung bewogen?
Jean-Paul Ballard: Die Formel 1 ist aufregend und sehr spannend; es hat viel Spaß gemacht, dort Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Aber in einer Zeit, in der wir mit Themen wie dem Klimawandel konfrontiert sind, hat es für mich persönlich keinen Sinn mehr gehabt, zu schauen, wie Autos im Kreis fahren. Ich wollte das Know-how, das ich dort gesammelt habe, anders einsetzen. Das Radfahren hatte ich in den Mittagspausen angefangen – hier in der Schweiz ist man ja oft in wenigen Minuten am Berg. Ich bin viele Rennen gefahren, hab’ Triathlon gemacht. Von Businessthemen hatte ich anfangs kaum Ahnung – ich bin Ingenieur. Aber zum Glück haben wir es geschafft, Swiss Side als Unternehmen aufzubauen, das Radprofis zu sportlichen Erfolgen verhelfen kann. Wir haben die schnellsten Laufräder der Welt entwickelt, mit denen mehrmals Weltmeisterschaften gewonnen wurden. Davon produzieren wir in Kooperation mit dem Komponentenhersteller DT Swiss 3.000 bis 4.000 Stück pro Jahr.
Jean-Paul Ballard: Die Formel 1 ist aufregend und sehr spannend; es hat viel Spaß gemacht, dort Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Aber in einer Zeit, in der wir mit Themen wie dem Klimawandel konfrontiert sind, hat es für mich persönlich keinen Sinn mehr gehabt, zu schauen, wie Autos im Kreis fahren. Ich wollte das Know-how, das ich dort gesammelt habe, anders einsetzen. Das Radfahren hatte ich in den Mittagspausen angefangen – hier in der Schweiz ist man ja oft in wenigen Minuten am Berg. Ich bin viele Rennen gefahren, hab’ Triathlon gemacht. Von Businessthemen hatte ich anfangs kaum Ahnung – ich bin Ingenieur. Aber zum Glück haben wir es geschafft, Swiss Side als Unternehmen aufzubauen, das Radprofis zu sportlichen Erfolgen verhelfen kann. Wir haben die schnellsten Laufräder der Welt entwickelt, mit denen mehrmals Weltmeisterschaften gewonnen wurden. Davon produzieren wir in Kooperation mit dem Komponentenhersteller DT Swiss 3.000 bis 4.000 Stück pro Jahr.
Albers: Welche Verbesserungen haben Sie zum Beispiel an Rennrädern vorgenommen?
Ballard: Klassischerweise werden sie beispielsweise mit NACA-Profilen gefahren, die aus der Flugzeugindustrie übernommen wurden. Doch ein Flugzeug erreicht sehr hohe Geschwindigkeiten und hat auch das Ziel abzuheben – ein Rad tut beides nicht. Also haben wir eigene Profile entwickelt, die auf ein Tempo von um die 40 Kilometer pro Stunde ausgelegt sind, und dort die Aerodynamik erheblich verbessert. Die Radbranche war in diesem Punkt geradezu unterentwickelt; es gibt hier viel Potenzial – Verbesserungen um die 30 Prozent sind nicht unüblich. Wir gehen jedoch auch immer in die Extreme und holen wirklich das Optimum heraus, weil unsere Laufräder und andere Produkte für Topathleten konzipiert sind. So betreuen wir beispielsweise Patrick Lange, der 2017 und 2018 Ironman-Weltmeister wurde und das Rennen zum ersten Mal unter acht Stunden bestritten hat. Dafür musste er mindestens 101 Sekunden schneller sein als der bisherige Rekordhalter – wir haben es „Project 101“ getauft und es gemeinsam mit Partnern und Patrick auch erreicht. Unsere Zusammenarbeit hält seitdem an, wir versprechen ihm pro Jahr zwei Prozent Leistungssteigerung und haben das bisher immer geschafft. Sie fahren auch Mountainbike und Rennrad, richtig? Welche Touren machen Sie?
„Wir verlassen uns immer auf die Zahlen: Für uns geht nichts über Fakten und übers Testen.“
Jean-Paul Ballard
Albers: Lange Strecken sind für mich Touren mit etwa 150 Kilometern. Als Amateur fahre ich im Schnitt um die 30 Kilometer pro Stunde, bin dann also rund fünf Stunden unterwegs. Das reicht für mich aus – ich muss dieses Hobby ja auch zeitlich in Einklang mit Beruf, Familie und weiteren Aktivitäten bringen. Aber es macht viel Spaß. Was würden Sie denn sagen – wie gehe ich als Radfahrer mit dem Wind unterwegs am besten um?
Ballard: Das Equipment kann hier viel bewirken. Mit einem guten Rad, das einen optimalen Rahmen hat, ist Wind kein Wind. Man braucht vor allem gute Laufräder, denn 65 Prozent des erwünschten Segeleffekts kommen von den Rädern. Dann kann der Wind dein Freund sein.
Albers: Warum haben Sie sich der Aerodynamik verschrieben?
Ballard: Ich bin fasziniert von dieser Kraft der Natur, das war ich schon immer. Ich bin in Australien und der Schweiz aufgewachsen, und in Down Under war ich sehr viel windsurfen. Klar, Gegenwind mag beim Radfahren niemand. Aber wenn ich auf zwei Rädern unterwegs bin und diese Energie spüre, versuche ich immer, sie als Unterstützung zu sehen und zu nutzen.
Albers: Es hat ja auch einen Trainingseffekt, gegen Widerstand zu fahren.
Ballard: Und das Leiden ist auch Teil des Spaßes.
Albers: Durchaus. Man lernt Dinge auszuhalten und sich in Demut zu üben. Und wenn man am Ziel ist, dann ist das erfrischend, und man fühlt sich sehr gut. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Tour im vergangenen Jahr. Die war 90 Kilometer lang, und ich bin 70 Kilometer nur mit Gegenwind gefahren. Das war Quälerei. Aber dann kam eine Abfahrt, und die fühlte sich so befreiend an – die Anstrengung zuvor war so gut wie vergessen. Sie wollen Topsportlern das Leiden etwas erleichtern und sie schneller machen. Wie genau schaffen Sie das?
Ballard: Wir verlassen uns immer auf die Zahlen und prüfen und testen alles in einem Windkanal am Bodensee. Es gibt Produkte auf dem Fahrradmarkt, die als aerodynamisch angepriesen werden, eine Leistungssteigerung versprechen und mit entsprechend höherem Preis verkauft werden. Die haben wir getestet, und teilweise war der Luftwiderstand damit um 20 Prozent höher. Für uns geht wirklich nichts über Fakten und übers Testen. Ein Beispiel: Der Schweizer Athlet Marcel Hug fährt Rennrollstuhl, und wir haben vor den Paralympischen Sommerspielen 2021 in Tokio gemeinsam mit dem Hilfsmittelhersteller Orthotec und der Sauber Group ein völlig neues Fahrzeug für ihn konzipiert. Rennrollstühle haben in der Regel geschlossene Scheibenräder, das hat lange keiner infrage gestellt. Wir haben die Scheiben aber im Windkanal mal weggelassen und sind nur mit Speichen gefahren – tatsächlich war der Luftwiderstand um zehn Prozent niedriger! Marcel hat dann in Tokio Gold über 800, 1.500 und 5.000 Meter gewonnen und unterbot auf der Marathondistanz den 22 Jahre alten Weltrekord um rund 2,5 Minuten – weil er das beste Material hatte, aber natürlich auch, weil er ein Weltklasseathlet ist. Der Weltrekord war unser Ziel – wir wollen immer Rekorde brechen.
Albers: Sicherlich werden Ihre Ideen kopiert. Wie schützen Sie sich vor Diebstahl an Ihren Konzepten?
Ballard: Da wir auf sehr hohem Niveau arbeiten, ist das kein allzu großes Thema für uns. Aber ja, wir müssen bei dieser gewissen „Patentschlacht“, die in der Fahrradbranche herrscht, mitmachen, um unser geistiges Eigentum zu schützen. Wir selbst wären nicht sehr an Patenten interessiert, weil sie aufwendig sind, viel Geld kosten und Zeit beanspruchen. Wenn ein Patent erteilt ist, sind wir gedanklich mit den Entwicklungen meist schon mindestens ein Jahr weiter.
Albers: Sie haben sich noch nicht intensiv mit Lkw-Trailern beschäftigt, aber was können Sie mit Ihrem Blick von außen zur Aerodynamik der Fahrzeuge sagen? Da wir natürlich gesetzlich an bestimmte Höhen-, Breiten- und Längenmaße gebunden sind, bleibt nur wenig Spielraum für Optimierungen. Doch mich würde sehr interessieren, welche Potenziale Sie noch sehen.
Ballard: Es gibt drei Einflussgrößen: Neben der Aerodynamik, also dem Luftwiderstand, sind das der Rollwiderstand und das Gewicht des Fahrzeugs. Vor allem der Faktor Seitenwind scheint mir in Bezug auf Trailer bisher wenig erforscht zu sein. Da könnte man zum Beispiel am Unterboden Messungen durchführen, um zu sehen, welche Kräfte wirken. Interessant ist nämlich, dass man wenig allgemeine Erkenntnisse über Windverhältnisse am Boden hat; offizielle Messungen beziehen sich oftmals auf eine Höhe um die zehn Meter. Um den Luftstrom am Fahrzeug zu unterstützen, könnte man zum Beispiel gezielt konstruktive Verwirbelungen erzeugen und entsprechende Anbauteile anbringen.
Albers: Das funktioniert auf jeden Fall, ist für Spediteure nur häufig eine Kostenfrage: Der Preisdruck in der Branche ist enorm hoch, und Investitionen müssen sich bei Kunden, die einfache Transporte durchführen, innerhalb von 24 Monaten rentieren.
Ballard: Wirtschaftlich müssen Lösungen natürlich immer sein – das verstehe ich gut. Platooning wäre in der Theorie ein sehr erfolgversprechendes Konzept für den Schwerlastverkehr, weil es den Seitenwind abmildert und viel Luftwiderstand spart, wenn mindestens zwei Fahrzeuge dicht hintereinander fahren. Wir kennen das aus dem Teamradsport: Wenn dort in Kolonne gefahren wird, profitieren die Fahrer im Windschatten, aber auch jene, die vorausfahren. Wir haben zum Beispiel das Team Ineos 2019 bei der Tour de France beraten, an welcher Position sie ihren Keyfahrer Egan Bernal am besten einsetzen sollten, vor allem auf Etappen mit viel Seitenwind. Bei fünf Fahrern hat er sich als Dritter eingereiht – und er hat den Wettkampf gewonnen.
Albers: Dass Platooning Effizienzgewinne ermöglicht, hat man in Praxistests gesehen. Leider scheitert das Konzept in Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz am dichten Verkehrsaufkommen und ist in der Praxis keine Alternative. Was mich noch interessiert: Ein eckiger Trailer ist wahrscheinlich deutlich weniger windschnittig als ein Mensch auf einem Fahrrad, oder?
Ballard: Der Gedanke liegt zunächst nahe, aber im Vergleich schneidet der Trailer mitunter sogar besser ab: Der Mensch sorgt mit seinen runden Formen an Armen, Beinen und dem Rumpf für recht viele Verwirbelungen – das ist teilweise schlimmer als bei einem kastenförmigen Objekt. Wir versuchen, dieser Problematik beim Radfahren unter anderem damit zu begegnen, indem wir Trikots aus besonders widerstandsarmen Stoffen entwickeln.
JEAN-PAUL BALLARD
Jahrgang 1978, hat Aeronautical Engineering studiert und dann 14 Jahre lang in der Formel 1 gearbeitet, wo er unter anderem für BMW Sauber die Aerodynamik von Rennwagen optimierte. Privat fährt er schon lange gern und viel Rennrad und machte dieses Hobby 2014 zum Beruf: Seitdem führt er mit Swiss Side ein Spin-off-Unternehmen von Sauber, das Aerolaufräder und -equipment entwickelt und Athleten dabei hilft, immer schneller zu werden.
Albers: Wenn ein Sportler mit einer konkreten Fragestellung an Sie herantritt, wie gehen Sie sein Anliegen an?
Ballard: Zuerst müssen wir genau verstehen, worum es sich dreht, und können dann entscheiden, welche Messungen dafür nötig sind – sowohl auf der Straße als auch im Windkanal. Zudem können wir sehr starke, selbst programmierte Tools zur Simulation von bestimmten Praxissituationen nutzen. Damit können wir Parameter wie den Luft- oder Rollwiderstand einstellen und beispielsweise schauen, wie sich ein Objekt bei verschiedenen Geschwindigkeiten verhält. Dann bauen wir Modelle. Um die Messungen durchzuführen, brauchen wir Techniken wie 3-D-Druck oder Kohlenfaserbau und strukturelle Berechnungen – denn schlussendlich wollen wir fahrbare Produkte entwickeln. Wir stehen nicht nur für Aerodynamik, sondern auch für Physik und Elektronik – wir bauen ein Komplettsystem. Und wann immer wir etwas quantifizieren müssen, es aber kein Messgerät dafür gibt, entwickeln wir selbst die nötigen Instrumente. Wir haben zum Beispiel eine Lenkmomentwaage konstruiert, mit der wir im Windkanal messen können, welchen Einfluss der Seitenwind auf das Vorderrad des Fahrrads und die Lenkung hat. Wir sind weltweit die Einzigen in der Fahrradbranche, die das messen können.
Albers: Orientieren Sie sich in Ihrer Arbeit auch am Vorbild der Natur? Wir haben 2012 gemeinsam mit MAN eine Studie vorgestellt: den AeroLiner – einen aerodynamisch optimierten Sattelzug. Er hatte eine stromlinienoptimierte äußere Gestalt in Tropfenform, für die die Form eines Grindwals Pate stand.
Ballard: Es gibt viele gute Beispiele in der Natur, von denen wir für die Aerodynamik von Fahrzeugen lernen können. Bei der Entwicklung innovativer Trikots haben wir uns beispielsweise an der Struktur von Haihaut inspirieren lassen. Man muss von Fall zu Fall sehen, ob die Übertragung in eine andere Welt funktioniert. Zum Beispiel schwimmt ein Hai im Wasser, aber unsere typischen Produkte bewegen sich durch die Luft. Das macht einen großen Unterschied. Für uns sind die Windkanaltests das A und O – nur was da besteht, bringen wir auch in die Praxis.
Fotos: Nico Pudimat Fotografie, MAN