Als Futurist entwirft Kai Goerlich Szenarien für die Wirtschaft und das Leben in der Zukunft. Mit seinem Unternehmen Visionary Labs erarbeitet er in Unternehmen Wege, mit diesen Szenarien umzugehen. Seine Leidenschaft für systemisches Denken brachte ihn zudem zum Schamanismus.
K
ai Goerlich schaut nach vorn: Als Zukunftsforscher sagt er Trends und zukünftige Entwicklungen voraus. Er will damit Menschen helfen, neue Sichtweisen einzunehmen und diese bewusst zu nutzen, und zeigt mit seinem Beratungsunternehmen Visionary Labs Unternehmen den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft auf: „Wir gehen gemeinsam mit ihnen in einen wirklich kreativen Prozess. Der ist herausfordernd, weil man dafür seine gewohnten Perspektiven infrage stellen und Veränderungen angehen muss.“ Er wisse aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie schwierig das sein kann: „Ich möchte andere dabei unterstützen, sich dem zu stellen und ihr volles Potenzial zu nutzen.“
Wunder des Lebens verstehen
Als der heute 60-Jährige studieren wollte, stand er vor der Wahl zwischen Musik und Biologie. Er entschied sich für Biologie, um „das Wunder des Lebens zu verstehen“. Doch bald folgte die Ernüchterung: „Die Wissenschaft an sich ist sehr spannend, vor allem die Erklärung, wie natürliche Systeme funktionieren und wie wir darin überleben können“, berichtet er. „Aber für mich persönlich blieb die Frage nach dem Wunder des Lebens offen.“ Er fand Antworten darauf im Schamanismus, den er bis heute praktiziert und auch für The Foundation for Shamanic Studies Europe lehrt. Die nicht gewinnorientierte Vereinigung will das Wissen der jahrtausendealten Heiltradition erhalten, erforschen und weitergeben.
Der Schamanismus basiert auf dem Gedanken, dass alles miteinander verbunden ist: Menschen, Lebewesen und die gesamte Natur. Goerlich sieht diese Sichtweise als eine Voraussetzung, um auf diesem Planeten gemeinsam zu überleben: „Wir benötigen ein globales Bewusstsein, das uns ermöglicht, zu gemeinsamen Absprachen über unseren Ressourcenverbrauch und unsere Lebenssituationen zu kommen.“ Das zeigen nicht zuletzt die globalen Warenströme: „Wir erleben derzeit besonders stark, wie abhängig wir in unterschiedlichem Maße davon sind, wie schnell sie unterbrochen werden können und welche Probleme das auslösen kann. Wir müssten also andere Sichtweisen und Strukturen erarbeiten.“
Nach dem Biologiestudium zog es ihn aus der Wissenschaft in die Öffentlichkeitsarbeit: Rund acht Jahre lang hat er in PR-Agenturen in Frankfurt am Main gearbeitet. Damals kam er in Kontakt mit SAP: Die Softwarefirma suchte Menschen mit Know-how in Marketing und Internet. „Das war Ende der 1990er-Jahre, als die Modems noch laut brummten – quasi die Internet-Steinzeit“, erinnert er sich. „SAP wollte die Technologie kommunikativ nutzen.“ Er stieg in das Unternehmen ein und nutzte bald die Chance, in eine Tochterfirma für Consulting zu wechseln, wo er Marktforschung betreiben sollte, um neue Kunden zu akquirieren. „Ich habe ganz klassisch Märkte und Wettbewerber analysiert und mich in Finanzberichte eingelesen. Bald wollte ich tiefgreifender verstehen, warum Analysten bestimmte Vorhersagen treffen.“ Goerlich beschäftigte sich mit Trends in der Industrie und in größeren Zusammenhängen, die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beeinflussen, schrieb interne Trendbücher und fand heraus, dass es Menschen gibt, die systematisch solche Voraussagen beschreiben. „Das war mein Einstieg in die Zukunftsforschung“, so Goerlich. Sein Weg führte ihn weiter nach Potsdam, wo er im SAP Innovation Center Network als Chief Futurist tätig war und sich dann in dieser Rolle mit Kollegen mit dem Unternehmen Visionary Labs selbstständig machte.
Mit freiem Blick nach vorn schauen
Zukunftsforscher entwerfen Szenarien für kommende Entwicklungen. „Man kann sich zum Beispiel eine Zukunft mit oder ohne Blockchain vorstellen, und das jeweils mit dem Thema Nachhaltigkeit kombinieren: Was würde beispielsweise passieren, wenn wir Blockchain-Technologie nutzen und Nachhaltigkeit stärker als bisher umsetzen können?“ Anhand dieser Szenarien skizziert man mögliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Gesellschaft und das eigene Unternehmen – und kann dann schon heute die Weichen für die Zukunft stellen. Vielleicht stellt man dabei zum Beispiel fest, dass Lieferketten mithilfe von dezentraler Blockchain-Technologie nachhaltiger aufgebaut werden können?
KAI GOERLICH
Kai Goerlich hat in Würzburg Biologie studiert und in der PR sowie im Marketing gearbeitet, bis er sich auf Zukunftsforschung spezialisierte. Nach mehreren Stationen bei SAP, zuletzt im Innovation Center in Potsdam, ist er jetzt als Chief Futurist bei Visionary Labs tätig. Er ist Vater von drei Kindern, verheiratet und lebt in der Nähe von Potsdam.
„Ich muss gar nicht genau und sicher wissen, wie die Welt in etwa zehn Jahren aussehen wird“, so Goerlich. „Ich sollte nur überlegen, wie ich bestimmte Entwicklungen, die damit zusammenhängen, für meine Organisation unterstütze oder vermeide. Es geht also darum, mit einem freien Blick nach vorn zu schauen und mögliche Entwicklungspfade abzuleiten.“ Er selbst beschreibt den Vorgang, als würden wir einen dunklen Raum mit Taschenlampen ausleuchten: „Jede und jeder von uns wirft einen dünnen Lichtstrahl ins Dunkle. Aus dem, was wir da sehen, leiten wir einen Sinn ab. Wenn mehrere Leute in den Raum leuchten, sieht man schon etwas mehr. Aber um Strukturen zu erkennen, muss ich sehr viel mehr Licht hineingeben und dazu in der Regel auch den eigenen Standort und Bezugsrahmen wechseln.“ Wir werden also immer wieder dazu herausgefordert, uns „in andere Schuhe zu stellen“. Das sei oft anstrengend und könne unsicher machen. Doch: „Die Sicherheit, die man vorher gespürt hat, ist ja auch nicht real. Wir richten uns nur gern darin ein – und behalten dann die Denkmuster bei, die damit verbunden sind.“ Eine absolut menschliche Reaktion, denn so ein Experimentieren mit dem Neuen berge immer ein Risiko in sich: „Und vor allem die Wirtschaft und Administrationen scheuen sich davor, die wollen vor allem Bedrohungen minimieren.“
Flexibilität als größte Stärke
Eine einseitige Wachstumsgesellschaft, wie sie derzeit vorherrscht, hat laut Goerlich wenig Zukunftsperspektive: „Wir wissen seit dem Club of Rome in den 1970er-Jahren, dass wir die natürlichen Ressourcen der Erde überziehen. Doch in diesen fünf Jahrzehnten hat sich kein großer Lerneffekt eingestellt.“ Auch hier wird seiner Meinung nach deutlich, wie die immer gleichen Pfade beschritten werden: „Was ist das beispielsweise für eine Politik, die schon längst die Wasserstofftechnologie hätte anschieben können, aber immer wieder daran scheitert?“
Mehr Resilienz aneignen
Unternehmen, die für die Herausforderungen von heute und morgen gewappnet sein wollen, rät er, sich mehr Resilienz anzueignen – mehr Raum zum Atmen im eigenen System. Man solle sich nicht mehr darauf verlassen, dass Lieferketten so nahtlos funktionieren wie in der Vergangenheit. „Und wenn ich überleben will, muss ich deutlich innovativer und flexibler werden, vor allem als kleines oder mittleres Unternehmen. Ich sollte mich unabhängig von politischen Entscheidungen machen und mich vernetzen, also neue Netzwerke aufbauen und Allianzen schmieden. Wenn sich Systeme verändern, muss ich meine Anpassungs- und Innovationsfähigkeit stärken. In der Natur passiert das ganz einfach: Was sich nicht anpasst, ist weg.“
Kai Goerlich sieht, wie seine Szenarien Wirklichkeit werden, wie die Wege, die er Unternehmen aufzeigt, Form annehmen. Er muss auch damit leben, wenn seine Ideen einmal nicht umgesetzt werden. „Das kann ich auch gut“, erklärt er. „Was ich nur nicht leiden kann, sind Ausreden. Wenn jemand sagt: ‚Ich verstehe, das ist eine super Idee, aber wir machen es nicht‘, dann ist das völlig in Ordnung. Doch Ausreden halte ich nicht aus – wir haben reihenweise gute Innovationen gesehen, die damit versenkt wurden.“